Arbeitswelt unter Druck
Das Ergebnis des DAK Gesundheitsreports 2023 mit dem Titel „Gesundheitsrisiko Personalmangel: Arbeitswelt unter Druck“ bestätigt den höchsten Krankenstand seit 25 Jahren.
Die Zusammenhänge zwischen Personalmangel und Krankenstand sind größer als bisher vermutet:
„In Situationen des Personalmangels ist die Arbeitsbelastung sehr hoch. Das kann zu hohen Fehlzeiten beziehungsweise zu einem relativ hohen Krankenstand führen, dies wiederum belastet die verbleibenden Beschäftigten zusätzlich.“
Professor Dr. Volker Nürnberg, Professur für Gesundheitsmanagement, Allensbach Hochschule
2021 meldete die Bundesagentur für Arbeit personelle Engpässe in 148 Berufen.
Ende 2022 nannte die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) die Zahl von zwei Millionen vakanten Stellen, die dauerhaft nicht besetzt werden könnten.
Zuletzt hatte Bundeskanzler Olaf Scholz geäußert, dass es das Problem der Arbeitslosigkeit in Deutschland bald nicht mehr geben werde.
Was aus Sicht eines Sozialpolitikers wie die Verwirklichung einer Utopie klingen mag, ist aus unternehmerischer Perspektive eine bedrohliche Vorstellung. Nicht nur spezialisierte Fachkräfte werden knapp. Arbeitskräfte insgesamt stehen nur noch in sehr begrenztem Maß zur Verfügung.
Welche Auswirkungen der Personalmangel auf die Gesundheit der verbliebenen Beschäftigten hat und welches Potenzial das Betriebliche Gesundheitsmanagement (BGM) birgt, wurde für den diesjährigen Gesundheitsreport untersucht. Die Auswertungen zeigen, dass ständiger Personalmangel für fast die Hälfte der Beschäftigten bereits Alltag ist – mit deutlichen Gesundheitsrisiken.
Konstante Personalnot betrifft sowohl Unternehmen als auch deren Mitarbeitende. Letztere leiden unter permanentem Termin- und Leistungsdruck (68 Prozent), Überstunden (59 Prozent), fehlenden Pausen (46 Prozent), Entscheidungen, die auf einer unzureichenden Wissensbasis getroffen werden müssen (41 Prozent), und der ständigen Sorge, die Arbeit nicht zu schaffen (38 Prozent). Am Ende dreht sich die Krankheitsspirale. Müdigkeit, emotionale und körperliche Erschöpfung werden zum ständigen Begleiter. Die Zeit für einen gesunden Ausgleich für Familie, Sport, Kultur oder Hobbys fehlt. Aus dem Dauerstress entwickeln sich häufig Erkrankungen, zugleich aber auch sogenannter Präsentismus, bei dem die Beschäftigten trotz Erkrankung zur Arbeit gehen. All das bleibt nicht folgenlos: Mitunter lang anhaltende psychische Erkrankungen etwa Depressionen und Angstzustände, führen seit Jahren zu mehr Fehlzeiten und jeder Ausfall verschlimmert den Personalmangel.
Deshalb sind Gesundheitsvorsorge und Prävention wichtiger denn je, wenn Unternehmen Fehlzeiten reduzieren und die verbliebenen Beschäftigten arbeitsfähig bis ins Alter halten möchten. Auch wenn Gewerkschaften und Unternehmen häufig unterschiedlicher Meinung sind, in diesem Punkt sind sich Unternehmerin Jasmin Arbabian-Vogel und Astrid Schmidt von ver.di sehr einig: Beide sehen in Personalmangel, Arbeitsdruck und Dauererkrankung ein Führungsproblem. „Wir müssen die Arbeitskultur insgesamt ändern“, ist Astrid Schmidt, Referentin für Innovation und Gute Arbeit bei der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, überzeugt. Es mangele an Diversität in jeder Hinsicht, an flexiblen, aber verlässlichen Arbeitszeiten, an der Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben.
In der Konsequenz erwägen viele Beschäftigte eine Reduktion ihrer Arbeitszeit, was den Personalmangel noch verstärkt. So haben rund sechs Prozent der Beschäftigten, die Personalmangel erleben, ihre Arbeitszeit im vergangenen Jahr reduziert, weitere 19 Prozent planen diesen Schritt. „Die Arbeitsbelastung in Teilzeit ist allerdings kaum geringer als in Vollzeit“, sagt Astrid Schmidt. Während viele Beschäftigte über eine Reduzierung der Stunden nachdenken, sehen Wirtschaftsvertreterinnen und -vertreter in der Verringerung der Teilzeitquote vor allem bei Frauen eine Möglichkeit, zusätzliches Arbeitskräftepotenzial zu heben. Denn noch immer arbeiten fast zwei Drittel der Frauen mit Kindern in Teilzeit – und stocken nach der Kinderphase ihre Stunden nicht mehr auf. Zum Vergleich: Männer arbeiten nicht einmal zu zehn Prozent in Teilzeit und wenn, dann ist Kinderbetreuung deutlich seltener als bei Frauen der Grund dafür.
Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung zeigt, dass rein rechnerisch mindestens 300.000 Vollzeitstellen in der Pflege besetzt werden könnten, wenn abgewanderte Fachkräfte in den Beruf zurückkehren und Teilzeitkräfte die Stundenanzahl erhöhen würden. Diese Potenziale zu heben, setze allerdings attraktive Arbeitsbedingungen voraus, betont ver.di-Frau Astrid Schmidt.
Beschäftigte sollten in die Gestaltung ihrer Arbeitsumwelt einbezogen und Leistungserwartungen realistisch bemessen werden. Die Arbeitszeiten sollten so flexibel wie möglich und auf die Bedürfnisse der Beschäftigten zugeschnitten sein. Unternehmerin Arbabian-Vogel ist überzeugt: „Wenn wir uns darum kümmern, dann bleiben unsere Beschäftigten lange arbeitsfähig, weil sie zum Beispiel auch Zeit für Sport haben. Sie sind motiviert und arbeiten gern, und über eine Rente mit 63 brauchen wir dann nicht mehr zu sprechen.“
Führung wird herausfordernder – doch der Aufwand lohnt sich, wenn dadurch Gesundheit, Mitarbeiterbindung und zudem die Attraktivität des Unternehmens gestärkt werden.